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Ein Waadtländer Pfarrer berichtet aus Oberägeri

1790
Im Juli 1790 bereiste der Waadtländer Pfarrer Philipp-Sirice Bridel das Ägerital. Sein Bericht vermittelt einen guten Eindruck der Verhältnisse im späten 18. Jahrhundert, kurz vor den grossen Umwälzungen der Helvetischen Revolution von 1798.

«Ein langer, steiler und rauher Weg, führte mich auf den Gipfel eines ziemlich hohen Berges, den man hier zu Land Mangliberg nennt. Dieser Gipfel war eben mit einer Ziegenheerde besetzt. Mitten auf einem Felsen gelagert, sang ihnen ein kleiner Hirte, schön wie ein Amorino, und fast eben so nackt wie dieser, langsam, und indem er sich sanft hin und her schauckelte, ein ländliches Lied in drey oder höchstens vier Noten vor, welches sie mit grossem Vergnügen anzuhören schienen, und das auch für mich nicht unangenehm war.

Ich wurde für meinen Schweiss und Mühe, diese ätherische Gegend zu besteigen, durch die unermessliche Aussicht, die sich meinem Auge darbot, reichlich entschädigt - denn hier entdeckte ich, à vue d'oiseau, einen der schönsten Theile der innern Schweiz. (...) Endlich traf mein Blick auf das gerade unter mir liegende tiefe Thal, und verweilte sich an den beyden Dörfern Egeri, und dem berühmten See, dessen Wellen das glorreiche Schlachtfeld von Morgarten bespühlen. (...)

Jetzt steig' ich bald auf der Morgenseite des Berges hinab, und folge den Krümmungen eines engen, in Felsen eingehauenen und an einem steilen Abgrund liegenden Fussweges. Egeri, in zwey wenig von einander entfernte Dörfer getheilt, ist eine der vier unter sich meist unabhängigen freyen Gemeinden des Cantons Zug. Der Wirth, bey dem ich meine Einkehr nahm, war ein Mitglied der Regierung; ein ehrlicher und dabey sehr höflicher zuvorkommender Mann, der, wie man sagt, im Rath eben so gut sprechen, als er seine Gäste bedienen kann. Sein Haus war eben voll Bauern, wovon mehrere nach Einsiedeln giengen. (...) Vortrefliche Fische, ausgesuchter Käse, Bergkohl, und Wein der jenseits des Gotthards wächst, war mehr als hinreichend, um hier ein gutes Mittagessen zu halten. (...)

Die jungen Töchter von Egeri, von denen ich mehrere Wasser aus dem Dorfbrunnen schöpfen, andre aber Schiffe über den See führen sah, sind überhaupt wohl gebildet. Grosse blaue Augen, sehr weisse Zähne, ein schönes oval rundlichtes Gesicht, eine frische Farbe, ihre Haare um eine breite mettallene Nadel, die hinten am Kopfe durchgeht, künstlich aufgewunden - alles dies fällt einem sofort auf, und bey näherer Bekanntschaft bemerkt man bald, dass sie nicht den wilden Charakter der Gegend haben, welche sie bewohnen. Alle kleinen Kinder, die ich angetroffen, scheinen mir vollends aus einem Grazienmodell gekommen zu seyn. (...)

Das Thal von Egeri ist ziemlich gut gebaut. Das Rohe seiner Ansicht wird durch den nächst anliegenden See ungemein gemildert, (...). In der schönen Jahrzeit ist derselbe gewöhnlich mit Schiffen bedeckt, weil die Anwohner alle ihre Häuser auf der einen Seite, und einen Theil ihrer Güter auf der andern haben, und also das Wasser täglich passieren müssen. (...) Keiner von den vielen englischen oder französischen Reisenden, welche durch die Schweiz laufen, um sie zu beschreiben, hat noch diese Gegend besucht, weil sie von der grossen Landstrasse entfernt liegt; indessen ist sie doch für die Neugierigen, und zumal für einheimische Reisende, der grössten Aufmerksamkeit werth.»


Bild: Blick über Oberägeri und den Ägerisee, 1802. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war Ägeri ein abgeschiedenes, nur auf schlechten Wegen erreichbares Tal, das in der Empfindung des Zeichners wie auch von Reisenden wie Bridel von hohen Bergen umschlossen war.